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Title
Kalorien und Nationalstolz. Oder wie die Krainer Wurst zur Entstehung der slowenischen Nation beitrug


Author(s)
Mlekuž, Jernej
Series
Kulturwissenschaft / Cultural Studies / Estudios Culturales / Études Culturelles
Published
Münster 2022: LIT Verlag
Extent
207 S.
Price
€ 29,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Lea Horvat, Institut für Kunst- und Kulturwissenschaften, Friedrich-Schiler-Universität Jena

Wenn man mit dem Zug nach Slowenien reist, ist die Krainer Wurst, „die kulinarische Flagge Sloweniens“ (S. 7), bereits im Speisewagen erhältlich. Das neue Buch des slowenischen Ethnologen Jernej Mlekuž, das nun in deutscher Übersetzung vorliegt, geht der Geschichte dieses Nationalgerichtes nach und zeigt auf, wie es aktuell „eng mit dem EU-orientierten Mainstream-Nationalismus Sloweniens verbunden“ (S. 118) ist.

Die Fallstudie ist ein relevanter Beitrag zur wachsenden Literatur der Food History in Südosteuropa. Zum einen hat sich eine rege Forschungsaktivität zu Esskulturen im sozialistischen Jugoslawien herausgebildet, die Konsumgeschichte, Geschlechtergeschichte und Memory Studies berührt.1 Zum anderen werden auch (post-)osmanische Foodways auf dem Balkan in den Blick genommen.2 Mlekuž selbst untersuchte in seinem vorherigen Buch die Kulturgeschichte des gefüllten Filoteiggerichts Burek.3 Seiner Einschätzung zufolge fungiert die Krainer Wurst zwar als das slowenische Nationalgericht, Burek hingegen ist im gesamten postjugoslawischen Raum als Fast Food erhältlich, weitaus beliebter und verbreiteter. Zugleich ist Burek in Slowenien in Othering-Dynamiken verwickelt – als Gericht mit Migrationshintergrund, das vorwiegend von Menschen aus anderen ehemaligen jugoslawischen Republiken zubereitet und verkauft wird. Daher baut die vorherige Forschung eine dankbare und gelungene Brücke zur Krainer Wurst. In beiden Fällen steht die Einbettung des Essens in nationale Identitäten im Sinne des Banal Nationalism nach Michael Billig im Vordergrund (S. 4).

Kalorien und Nationalstolz ist in drei Einheiten gegliedert: Zeit, Raum und Sprache. Im ersten Teil skizziert Mlekuž die Geschichte der Krainer Wurst, angefangen mit der ersten Erwähnung in der slowenischen Presse 1849. Mlekuž geht dem Prozess der „Nationalisierung“ nach, der Genese der Traditionserfindung im Sinne von Eric Hobsbawm, und zeigt, wie die Krainer Wurst in der österreichisch-ungarischen Zeit zum Identifikationsmerkmal und Marker einer slowenischen Identität nach außen geworden ist. Überraschenderweise wurde die Krainer Wurst im sozialistischen Jugoslawien ambivalent wahrgenommen, da sie in der vorsozialistischen Zeit des notgedrungen niedrigen Fleischkonsums eher mit der wohlhabenden Bauernschicht sowie dem Bürgertum assoziiert wurde. Durch die vermehrt industrielle Herstellung änderte sich nicht nur die Zusammensetzung der Wurst, sondern auch ihre Optik: Die Holzstäbchen, die die Wurst schließen, wurden durch Alu-Anhänger („Plomben“) ersetzt. Angefangen mit dem neuen Interesse für schlichte, traditionelle Rezepte im Spätsozialismus konsolidierte sich das Revival der Krainer Wurst. Dies geschah noch deutlicher in der postsozialistischen Zeit, in der die Krainer Wurst als regionales Produkt zertifiziert sowie durch eine Reihe gastrodiplomatischer Veranstaltungen, Menüs und Kochbücher unermüdlich als nationales slowenisches Kulturgut beworben, durchgekaut und neuinterpretiert wurde – allerdings nicht ohne Widerstand nationalkritischer Kreise, die sich über die „Diktatur der Krainer Wurst“ (S. 102) aufregten.

Im zweiten Teil steht der Raum im Mittelpunkt. Zunächst wird erläutert, wie sich Krain im Namen der Wurst auf eine der Regionen in der Habsburger Monarchie bezieht, während die Wurst schrittweise den gesamtslowenischen Raum bespielte. Des Weiteren findet die Stadt-Land-Dynamik Erwähnung, insbesondere die starke Fundierung der slowenischen Nationalidentität auf dem Ländlichen. Neben den intrajugoslawischen Dynamiken geht Mlekuž auf die Bedeutung der Krainer Wurst in der slowenischen Diaspora ein, insbesondere am Beispiel der USA und Australiens. Als Jury-Mitglied konnte er aus erster Hand über das Annual Slovenian Sausage Festival in Cleveland berichten. Aussagekräftig für die gegenwärtigen Identitätsverhandlungen ist die Geschichte der US-amerikanischen Astronautin Sunita Williams, welche die „Slovenian sausage“ 2006 auf ihre Reise ins Weltall mitgenommen hatte. Da die Krainer Wurst im nationalistischen Kontext zum Symbol eines national homogenen Sloweniens inszeniert wurde, stieß die Geschichte von der Wurst im Weltall nicht nur auf Euphorie, sondern auch auf Rassismus in slowenischsprachigen Internetforen, bezogen auf Sunita Williams‘ indisch-slowenischen Familienhintergrund. Besonders lesenswert ist die detaillierte Darstellung der komplexen Verfahren zur umstrittenen Aufnahme der Krainer Wurst in das Register der geschützten geographischen Angaben auf EU-Ebene und der Streit mit Kroatien, Österreich und Deutschland, wo Krainer Würste ebenfalls erhältlich und gängig sind.

Im letzten und kürzesten Teil geht es um den Mund – die Sprache und den Geschmack. Zunächst wird auf die „slowenische Kolonisierung des (Krainer) Bureks“ (S. 175), eine Verschmelzung der beiden Fast-Food-Produkte, eingegangen. Außerdem wird das Buch mit den neuesten extravaganten Rezepten wie „Dessert aus Schokolade, Sauerkraut und Krainer Wurst“ (S. 180) abgeschmeckt. Die Sinne kommen auch in der Besprechung der Verquickung von Pornographie und nationalen Stereotypen vor.

Das Buch interpretiert die Krainer Wurst in erster Linie als ein Beispiel der Nationalisierung und basiert vorwiegend auf Diskursanalyse und Quellen aus der Presse. Eine weniger ausgeprägte Konzentration auf den Nationalismus könnte eine neue Breite der Zusammenhänge eröffnen. So wäre es darüber hinaus interessant, im Sinne von Sensory History noch näher an die Materie der Wurst heranzukommen. Zum einen würde dies die Definition und Rezeptur der Wurst betreffen. Zum anderen bleibt die Produktionsgeschichte im Hintergrund: Wie hat man die Krainer Wurst traditionell auf dem Land hergestellt? Was lässt sich über die industrielle Herstellung der Wurst erfahren? Schließlich könnte eine detaillierte Analyse der Erfahrungen als Jurymitglied beim Krainer Wurst-Wettbewerb in den USA eine kulturanthropologische Vertiefung anbieten.

Mlekužs lebendiger, unprätentiöser Lapidarstil, der lieber zu einem Wortspiel mehr als weniger greift, ist erfrischend und hat in Verbindung mit dem Paperback-Format das Potenzial, ein breites Publikum anzusprechen. Wie der Autor zeigt, muss die historische Komplexität darunter nicht leiden. Die vielfältigen Quellen aus der Populärkultur – vom Pornofilm über Internetforenbeiträge bis zu Souvenirs wie Schlüsselanhängern mit Wurstmotiv – zeugen von einer umfassenden Analyse, die sensibilisiert für die Rolle der Krainer Wurst in der transnationalen Gegenwart. Während Werbung für veganes Burek aktuell auf Werbetafeln in Ljubljana zu sehen ist, stellt sich die Frage, wie sich die Krainer Wurst auf die Zukunft vorbereitet. Kann die Krainer Wurst ohne Schweinefleisch, in Halal-Version, oder gar ohne Fleisch auskommen? Mlekužs Analysen werden auch in Zukunft gebraucht.

Anmerkungen:
1 Wendy Bracewell, Eating Up Yugoslavia. Cookbooks and Consumption in Socialist Yugoslavia, in: Paulina Bren / Mary Neuburger (Hrsg.), Communism Unwrapped. Consumption in Cold War Eastern Europe, New York 2012, S. 169–196; Ruža Fotiadis / Vladimir Ivanović / Radina Vučetić (Hrsg.), Brotherhood and Unity at the Kitchen Table. Food in Socialist Yugoslavia, Zagreb 2019; Tanja Petrović / Jernej Mlekuž (Hrsg.), Made in YU 2015, Ljubljana 2016; Ana Tominc, Chef Ivan Ivačič's contribution to culinary modernisation in the 1960s Yugoslavia (Slovenia) through TV cooking shows, in: Ana Tominc (Hrsg.), Food and Cooking on Early Television in Europe. Impact on Postwar Foodways, London 2022, S. 120–136; Blanka Tivadar / Andreja Vezovnik, Cooking in Socialist Slovenia. Housewives on the Road from a Bright Future to an Idyllic Past, in Breda Luthar / Maruša Pušnik (Hrsg.), Remembering Utopia. The Culture of Everyday Life in Socialist Yugoslavia, Washington 2010, S. 379–406.
2 Arkadiusz Blaszczyk / Stefan Rohdewald (Hrsg.), From Kebab to Ćevapčići. Foodways in (Post-)Ottoman Europe, Wiesbaden 2018.
3 Jernej Mlekuž, Burek. A Culinary Metaphor, Budapest 2015.

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